Wer schon immer wissen wollte, wie sich Maries Urgroßmutter Lizzy und ihr Paul kennengelernt haben, der kann das hier nachlesen. Eine kleine Bonusgeschichte für meine Leser.
Es war einer dieser schwülen Tage, die einem nur Abkühlung bringen, wenn man sich auf dem Rücken eines Pferdes den Wind entgegen pusten lässt.
Ich ritt schon den ganzen Vormittag. Nicht nur die Temperaturen hatten mich auf mein Pferd getrieben. Meine Eltern beknieten mich seit einigen Tagen, endlich zu heiraten. Sie stellten mir ein junges Fräulein nach dem anderen vor und konnten nicht akzeptieren, dass die Richtige nicht dabei war. So blieb mir nur die eine Möglichkeit. Flucht.
Plötzlich tauchte vor mir eine junge Frau auf. Ihrer stolzen Haltung konnte ich entnehmen, dass sie aus gutem Hause stammen musste, doch ihre Kleidung war nicht gerade standesgemäß. Ich hatte das Gefühl, ihr helfen zu müssen.
»Kann ich Ihnen behilflich sein?«, fragte ich sie, während ich vom Pferd abstieg.
Große blaue Augen schauten zu mir auf, sie war mindestens einen Kopf kleiner als ich. »Vielen Dank, doch ich komme ganz gut allein zurecht.« Ihr Lächeln verzauberte mich, traf mich mitten ins Herz. »Ein wunderschönes Pferd haben Sie da.«
Vorsichtig ließ sie meinen ansonsten zur Heißblütigkeit neigenden Hengst an ihrer Hand schnuppern. Auch ihn hatte sie verzaubert, er schmiegte seinen Kopf an ihre zierlichen Finger, als wäre er ein Kätzchen.
»Sagen Sie, welches Datum haben wir heute?«
Diese Frage irritierte mich. »Heute ist der 27. Juli.«
»Und welches Jahr?«
Welches Jahr? Meinte sie diese Frage ernst? War sie vielleicht aus einem der Irrenhäuser entflohen? »1784«, erklärte ich. »Das müssten Sie doch eigentlich selbst wissen«, konnte ich mir nicht verkneifen.
Ihr Gesichtsausdruck verschloss sich und sie sah mich ernst an. »Ich bin schon lange unterwegs und habe wohl ein wenig zu viel Sonne abbekommen.«
»Dann erfüllen Sie mir den Wunsch, Sie zu einem Getränk einzuladen.« Zu meiner Freude erhielt ich ein Nicken.
Auf dem Weg zum nächsten Gasthof vertieften wir uns in ein Gespräch und ich erkannte, dass sie ein überaus intelligentes Geschöpf war. Ihr Name war Elisabeth Hegemann. Sie bat mich darum, sie Lizzy zu nennen. Warum konnte nicht eine der heiratswütigen Kandidatinnen so sein, wie diese fremde Frau. Doch irgendetwas kam mir merkwürdig vor. Ihr Verhalten, ihre Sprache und ihre Kleidung ergaben zusammen kein harmonisches Bild. Diese bezaubernde Person war widersprüchlich. Nicht umsonst war ich Professor für Geschichte geworden. Mich interessierten menschliche Schicksale und die Vergangenheit. Es reizte mich, hinter das Geheimnis dieser Frau zu kommen.
In der Gaststube saßen leider zwei raue Gesellen, die immer wieder anzügliche Blicke zu Lizzy warfen. Sie ignorierte die beiden Männer, doch so leicht ließen diese sich nicht abwimmeln. Einer der Männer kam zu unserem Tisch.
»Na, Herzchen, wie wäre es mit uns beiden. Ich habe bestimmt mehr zu bieten, als dieses hagere Bürschchen.« Der alkoholgeschwängerte Atem des Mannes schlug mir entgegen und etwas in meinem Gehirn setzte aus.
Was fiel ihm ein, die erste Frau, die mein Herz berührte auf diese schmähliche Weise zu beleidigen? Ich stand auf, um ihn zur Rede zu stellen, als ich auch schon einen heißen, stechenden Schmerz zwischen den Rippen spürte. Der Mann hatte mir ein Messer in den Körper gejagt. Meine Beine gaben nach und ich sackte zusammen. Lizzy stürzte sofort an meine Seite.
Ich sah nur noch ihre Augen, um uns herum entstand ein Tumult. Doch es war, als wären wir in unserem eigenen kleinen Universum. Nur wir beide. Sie sah mich ernst an. Und dann tat sie etwas, dass mein ganzes Leben aus seinen Fugen riss. Sie legte ihre kleine Hand auf die Stelle, in der das Messer gesteckt hatte, und schloss ihre Augen. Es war, als würde es ganz heiß an der Einstichstelle, meine Schmerzen hörten schlagartig auf. Die Wunde war kaum noch zu sehen. Im nächsten Moment sackte dieses wundersame Geschöpf ohnmächtig auf mir zusammen.
»Hat der Dreckskerl auch das Weib erwischt?«, tönte die tiefe Stimme des Gastwirts über mir.
Schnell sammelte ich alle meine Gedanken und antwortete: »Nein, wir sind beide nicht verletzt. Es war nur ein Schock. Haben Sie vielleicht ein Zimmer für mich?« Das anzügliche Grinsen, mit dem er meine Frage quittierte, ignorierte ich geflissentlich.
Ich trug meine Retterin, denn das war sie, in einen schäbig wirkenden Raum und deckte sie mit meiner Jacke zu. Es dauerte lange, bis sie endlich wieder ihre Augen aufschlug. Sehr lange.
»Wie geht es Ihnen?« War das Erste, was sie wissen wollte, als sie sich aufrichtete.
»Das sollte ich wohl eher Sie fragen, Lizzy.«
»Ach«, sie lächelte ein wenig befangen. »Mir geht es gut, so schlimm war Ihre Verletzung nicht.«
»Wie haben Sie das gemacht? Und woher kommen Sie?« In meinem Kopf kreisten noch tausende von Fragen, doch ich stellte ihr erst einmal die wichtigsten.
»Ich habe eine Gabe. Die Gabe der weißen Orchidee. Ich kann heilen.« Sie machte eine Pause und schaute mich mit ihren großen blauen Augen an. »Ich komme aus dem Jahr 1954 und bin eine Zeitreisende. Leider kann ich nicht zurück. Jetzt noch nicht.«
Mein Mund klappte herunter und ich sah sie entgeistert an. Heilen? Zeitreisen? »Aha«, war das Einzige, zu dem ich fähig war. Doch dann fingen meine Gehirnbahnen an zu arbeiten und ich erinnerte mich, in alten Schriften etwas Ähnliches gelesen zu haben. »Sie sind eine der Menschen, die durch den Baum der Bäume reisen können, richtig?«
Sie riss ihre Augen auf und starrte mich an. »Woher wissen Sie davon?«
Ich erklärte es ihr, woraufhin sie sich entspannte. Schüchtern lächelte sie mich an.
Wir unterhielten uns die ganze Nacht hindurch. Ich sog alle Informationen auf, wie ein trockener Schwamm. Und ich verliebte mich in sie. Es war mir egal, aus welcher Zeit sie stammte. Ich war mir sicher, dass sie die Richtige für mich war und ich nahm mir fest vor, dieses moderne Geschöpf nicht mehr gehen zu lassen. Nicht auf Dauer.
Doch zu meinem Glück brauchte ich keine großen Überredungskünste. Wir heirateten ein paar Tage später. Meinen Eltern war es egal, woher sie stammte. Sie waren von ihr verzaubert, wie das Pferd und ich. Sie hatte uns alle in ihrer liebevollen Hand.
Und ich liebte sie, bis das der Tod uns trennte. Selbst jetzt noch, lange Zeit danach.
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